Nachfolgender Schul-Aufsatz (Abschrift) wurde im November 1960 von mir als Schüler der 12. Klasse eines Gymnasiums in Berlin-West geschrieben.
Deutschlehrer in dieser Klasse war Herr Otto Citron; er war ein begnadeter Deutschlehrer. Er gab u.a. das nachfolgende Aufsatzthema vor.

Grenzen

"Grenzen" - lassen wir alle Empfindungen mitschwingen, die diese Vokabel erregt, erkennen wir so richtig die Relativität unseres Daseins. Es verdeutlicht sich das Eingeschränktsein in einen uns eigenen Raum, unsere Grenzen.
Nun ist damit aber nicht gesagt, daß wir nicht fähig wären, unsere Fähigkeiten zu entwickeln, eine Individuumwerdung zu vollziehen.  Nein, keiner Fatalität soll hier das Wort gesprochen werden!
Der Mensch soll im Sinne Kants Mut haben, mündig zu sein und seine Mündigkeit zu bekennen (sapere aude).  Diese Mündigkeit , die Jose Ortega y Gasset dem Elitemenschen zuspricht, macht ihn allein fähig, seine Grenzen zu erreichen.  Wir werden feststellen, daß die meisten Menschen  gar nicht fähig sind, ihre Grenzen zu erreichen.
Im Lateinischen begegnet uns das Wort Grenze als "limes" in abstrakter und konkreter Bedeutung. Zunächst erinnern wir uns, vom "Limes" der Römer gehört zu haben, der sie als Grenzwall entlang der Donau und des Rheins von den Germanen abgrenzte. In der Mathematik begegnet uns der limes aufs Neue. So ist z.B. ein Integral in den Grenzen a und b begrenzt. Dieser Intervall gibt an, zwischen welchen Grenzen sich das Integral erstreckt. So ist es auch im übertragenen Sinne: ein Mensch kann sich auf der unteren Grenze, aber auch an der oberen Grenze befinden.
Grenze ist Gesetz, etwas Festgelegtes. Gesetz ist die Regelmäßigkeit des Ablaufs der Bewegung im Kosmos nach genau festgelegten Bahnen. Diese Bewegung in festgelegten Bahnen ist das Leben, erweitert, das Leben der Persönlichkeit, welche ihr Wesen in der Bewegung hat. Progressive Bewegung einem Ideal entgegen ist Individuumwerdung. So ist es nicht nur bildlich zu verstehen, wenn Archimedes sagte:"Zerstört mir meine Kreise nicht!" Er sagte zugleich zerstört mir nicht das, was mich umgrenzt und meine Gedankenwelt umschließt. Der Mittelpunkt eines Kreises ist gleichsam die Persönlichkeit. Bis zur Peripherie, der Grenze, erstreckt sich die Ebene, die ihr adäquat ist.
Wenn nun der Mensch die Grenze überschreitet, verläßt er seine Persönlichkeit. Er schreitet ins Unbekannte, in fremdes Land. Jean Cocteau nennt diese Grundeinstellung, die Prägung (prägen=charato - Charakter), die "Linie". In Goethes Urworten finden wir einen Anklang an das, was hier die Prägung ist. "...Bist also dann und fort und fort gediehn nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen. So sprachen schon Sibyllen, so Propheten. Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt, geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
Es bedarf nun keiner weiteren Ausführung dazu, da diese Gedanken schon zu Wort gekommen sind.
Wenn wir uns (der Bedeutung) des Chores in der "Antigone" von Sophokles erinnern, werden wir in äußerster Form auf die Grenzen der Menschen hingewiesen. "Vieles Gewaltige ist, aber das Gewaltigste ist der Mensch..." Es kommt hier "deilon" und "deinon", das (Elende und das unheimlich Begabte) Göttliche und zugleich Dämonische im Menschen zum Ausdruck.
Kein Mensch ist unsterblich, mag die Medizin und die Chemie noch so große Erfindungen machen und das Leben des Menschen verlängern. Der Tod ist eine der Grenzen, die dem Menschen im Unterschied zu Gott gegeben sind. Ein Beispiel aus der Sprache führt uns in den gleichen Problemkreis. Im Russischen ist "krai" die Grenze."sa kranitsa" heißt "im Ausland". Wörtlich übersetzt ergäbe sich: hinter der Grenze. Hinter der Grenze beginnt also das Aus-Land.  Was ist hinter der Grenze aus (aus=Ende)?  Die Grenze begrenzt also den Anfang des Unbekannten  als auch  das Ende des uns Bekannten und Analogen.  Nach der Grenze beginnt das Unbekannte, das, von dem wir nichts wissen. Der Mensch will alles wissen und fiebert und heischt nach den Dingen, die im Unbekannten liegen. So errichteten die Babylonier einen Turm, um Gott näher zu sein und den Himmel zu durchstoßen. Gott zeigt aber den Menschen, daß sie sich nicht mit ihm auf eine Stufe stellen sollen und verweist sie in ihre Grenzen.
Das Bedürfnis des Menschen, das Haupt zu einem Gott zu erheben und an ihn und seine Stärke zu glauben, ist gleichsam ein Daimonion, ein "so mußt du sein" der Urworte Goethes. Dieses Verhältnis zu Gott steht innerhalb der Grenzenen des menschlichen Seins.
Kein Mensch kann sagen, Gott gesehen zu haben. Eine vermeintliche Vision des Göttlichen gehabt zu haben, ist gleichsam Grenzübergang. In diesem Zusammenhang kann man über die Visionen  Swedenborgs nur sagen, daß sie in die Räume des Hybriden hineinreichen. Er hat seine Grenzen überschritten, sein Ich vollkommen verlassen.  Ein weiteres Zeichen dafür ist, daß der einst so große Physiker und Erfinder (danach) zu keiner rationalen Arbeit mehr fähig war.
Dante zeigt in seiner "Göttlichen Komödie" die Versinnbildlichung eines Grenzüberganges in den verschiedenen Vorhöllen auf.Die Höllenkreise als Grenzübergang vom sündigen Dasein der Erde zum Paradies. Das Abbüßen der Sünden vollzieht sich in einem gewaltigen Ringen, um zum Paradies zu gelangen.
Dieser Versuch einer Deutung des sich hinter der Grenze befindlichen Unbekannten wurde oft vorgenommen. Ich möchte ihn als Versuch eines Grenzüberganges bezeichnen. Auch Jean Cocteau hat in seinem Film "Orfe´" das Thema belichtet. Er sieht den Spiegel als Mittler zur Vorhölle, die aber den Grenzübergang zum Reich des Todes darstellt. Absolute Grenze zwischen dem Reich des Todes und des Lebendigen ist bei ihm der Spiegel.
Ein anderer Autor gibt einer Studie den Titel "Grenzübergang". Er beschreibt ein Land "Kimmerien". Ein Fluß ist die Grenze. Zuvor wird ein Bahngeleise mit Schranken überschritten(die Schranken=Grenzen werden überschritten).
Bei Hermann Kasack ist ebenfalls ein Fluß Grenze zum Reich der Toten (Buch:"Die Stadt hinter dem Strom"). Es ergibt sich die Assoziation der Grenze Fluß in Verbindung zu unseren (geo-)politischen Grenzen. Der Fluß ist eine gute Markierung der Grenze. Er ist eine natürliche Grenze. Nicht aus Zufall sind viele Grenzen Flüsse. Genauso ideal sind Meer und Ozean in der Begrenzung eines Landes. Fragen wir uns, warum überhaupt Grenzen entstanden, so zeigt sich das Gegenüberstehen zweier Extreme, die voneinander getrennt werden.
Um auf den Grenzübergang zurückzukommen, darf ich noch an ein lehrreiches Märchen erinnern. Das Märchen vom "Schlaraffenland" zeigt, daß der Brei als Grenzübergang erst passiert werden muß. Der Anwärter aufs Schlaraffenland muß sich durchfressen. Das eigentlich Gute (der Brei) wird im Überfluß zur Qual, zeigt die Hybris auf. Es wird gleichsam das Überschreiten einer Grenze zum Hybriden hin aufgezeigt.
Die Grenze entspricht einer Kapazität. Wird sie überschritten, zerbricht etwas, gleich einem überspannten Bogen. Dieses Zerbrechen ist Verlassen der "Linie" und der Persönlichkeit. Überschreiten der Grenzen ist ein hybride Handlung. Der Mensch ist geneigt, sich in Extremen zu bewegen. Das Maßhalten in allen  Situationen des Lebens  bringt uns zu gesteigertem Sein und läßt uns erkennen, daß Grenzen uns nicht beengen sondern unser wahres menschliches Dasein in all seiner Härte und Größe ausmachen.

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