Früh übt sich

Vor zwanzig Jahren haben Psychologen Vierjährige untersucht. Deren Stärken und Schwächen sind bis heute dieselben

Anke Brodmerkel

Gelangweilt sitzt der vierjährige Johannes am Tisch. Mit dem Spielzeug, das vor ihm liegt - ein paar Sachen aus dem Kaufmannsladen und einer Kasse aus Holz - kann er nun wirklich nichts anfangen. Seine Mutter sitzt still in einer Ecke des Raums, den die beiden ein paar Minuten zuvor betreten haben. Von ihr ist anscheinend auch keine Ablenkung zu erwarten.

Plötzlich geht die Tür auf. Eine Frau kommt herein und setzt sich in einen Sessel. Dort öffnet sie eine Tüte und packt sichtlich erfreut ein tolles Spielzeug nach dem anderen aus. Verstohlen schaut Johannes immer wieder zu ihr. Zu gerne würde er diese Spielsachen selbst in die Hand nehmen. Aber er traut sich nicht, die Frau anzusprechen. Selbst als sie ihn fragt, ob er mitspielen will, bleibt der Junge stumm. Er ist - das bestätigt später auch seine Mutter - einfach zu schüchtern, um schnell mit Fremden Kontakt aufzunehmen.

Schüchternheit ist kein Nachteil

Diese Szene ist inzwischen gut zwanzig Jahre her, und in dieser Zeit ist klar geworden, dass sich Mütter mit Kindern wie Johannes keine Sorgen machen müssen. Zwar haben Schüchterne es im Leben anfangs etwas schwerer als weniger zurückhaltende Kinder. Dauerhafte Nachteile erleiden sie aber nicht. "Schüchterne Menschen haben in jungen Jahren mehr Probleme, einen Partner und Arbeit zu finden - doch später sind sie genauso erfolgreich wie andere", sagt der Psychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universität. Das hat er in einer Studie an 200 Mädchen und Jungen aus München herausgefunden, die er im Rahmen des Logik-Projekts vom Kindergarten bis ins Erwachsenenalter begleitet hat (siehe Infokasten). Die erste Beziehung und das erste richtige Arbeitsverhältnis gehen die Zurückhaltenden demnach nur mit einer durchschnittlich achtmonatigen Verspätung ein.

Schüchternheit scheint der Langzeituntersuchung zufolge eine Eigenschaft zu sein, die sich bereits im Kindergarten bemerkbar macht und die Betroffenen oft ein Leben lang begleitet. Doch Asendorpf kann die Eltern zurückhaltender Kinder beruhigen. "Schüchterne finden zwar nicht so leicht Freunde wie andere", sagt er. "Dafür halten ihre Freund- und später auch Partnerschaften aber in der Regel länger als bei den Draufgängern."

Die Untersuchung wurde 1984 am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München begonnen. Unter der Leitung des damaligen Institutsdirektors Franz Weinert wollten Forscher aus dem In- und Ausland herausfinden, wann Kinder bestimmte soziale und intellektuelle Kompetenzen entwickeln, wie frühzeitig sich unterschiedliche Persönlichkeiten und besondere Talente bemerkbar machen und inwieweit solche Unterschiede auch über die Pubertät hinaus von Dauer sind.

Dazu wurden die Probanden - so wie der kleine Johannes - zwischen 1984 und 1993 dreimal im Jahr etwa acht Stunden lang untersucht und dabei gefilmt. Zwei weitere Erhebungen fanden in den Jahren 1998 und 2003/2004 statt. An der letzten Befragung vor zwei Jahren nahmen noch 152 Probanden teil; sie alle waren inzwischen 22 oder 23 Jahre alt. Die ersten Endergebnisse der Logik-Studie stellten die beteiligten Wissenschaftler gestern auf einem Kongress in München vor, der noch bis heute Abend andauert.

Eine weitere Eigenschaft, die sich schon im Kindergarten herauskristallisiert, ist der Untersuchung zufolge die Fähigkeit zum moralischen Handeln. "Kinder entwickeln früh ein Verständnis für Regeln", sagt Wolfgang Schneider vom Institut für Psychologie der Universität Würzburg, der die Untersuchung von 1998 an leitete. Mehr als 90 Prozent aller Vierjährigen wissen zum Beispiel, dass es verboten ist, Schokolade zu stehlen. Fragt man sie aber, wie sich ein Schokoladendieb ihrer Meinung nach fühlt, antworten die meisten Kinder: "Gut!" Schließlich ist der Räuber ja an die ersehnte Süßigkeit herangekommen.

"Viele von den Kindern, die mit Gut antworten, weisen auch im späteren Leben keine sonderlich hohe moralische Motivation auf", sagt Schneider. Man hat zum Beispiel einem Bekannten versprochen, ihm das alte Mofa für dreihundert Euro zu überlassen. Was, wenn plötzlich einer kommt, der vierhundert bietet? "Nur jeder dritte junge Mann würde sein Versprechen halten und auf den zusätzlichen Gewinn verzichten", berichtet der Forscher. "Dabei wissen sie alle genau, dass sie selbst nicht so behandelt werden wollen." Junge Frauen schneiden bei vergleichbaren Tests übrigens besser ab: Etwa zwei von drei Frauen nehmen in Gewissenskonflikten persönliche Nachteile in Kauf, um moralisch zu handeln.

Für intellektuelle Fähigkeiten werden die Grundsteine offenbar ebenfalls schon im Kindergarten gelegt. "Der spätere Erfolg in der Grundschule lässt sich anhand der Fähigkeiten eines Vierjährigen recht gut vorhersagen", sagt Schneider.

Später verwischen sich die Unterschiede allerdings wieder: Ob ein Schüler der Sekundarstufe I oder II in einem bestimmten Fach erfolgreich ist, hängt dem Psychologen zufolge weniger vom Intelligenzquotienten ab als von den Vorkenntnissen in dem jeweiligen Fach. "In der Grundschulzeit bilden sich die Unterschiede in der Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit heraus", sagt Schneider. "Überraschenderweise öffnet sich die Schere zwischen begabten und weniger begabten Schülern auf den weiterführenden Schulen aber nicht noch weiter."

Egal, welcher Lehrer

Der einzelne Lehrer scheint für den Erfolg seiner Schützlinge nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. "Die meisten Kinder entwickeln sich ihren Möglichkeiten entsprechend - egal, von wem sie unterrichtet werden", berichtet Schneider. Auch der Einfluss des Elternhauses ist der Logik-Studie zufolge geringer als gedacht, vor allem nach der Grundschulzeit. "Es gibt viele Jugendliche, die von ihrem Umfeld völlig unbeeindruckt ihren Weg gehen", sagt Schneider.

Was also ist das wichtigste Fazit nach zwanzig Jahren wissenschaftlicher Arbeit? Schneiders Antwort: "Während der Kindergartenzeit sollte man seinen Nachwuchs sehr genau beobachten." Wolle man grundlegende Defizite beheben, etwa beim Spracherwerb oder in der Motorik, müsse das im Alter zwischen drei und fünf Jahren geschehen. Schneider: "Je länger man wartet, desto schwieriger wird eine Therapie."

Berliner Zeitung, 13.07.2006
 

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