Gelangweilt sitzt der vierjährige Johannes am Tisch. Mit
dem Spielzeug, das vor ihm liegt - ein paar Sachen aus dem
Kaufmannsladen und einer Kasse aus Holz - kann er nun
wirklich nichts anfangen. Seine Mutter sitzt still in einer
Ecke des Raums, den die beiden ein paar Minuten zuvor
betreten haben. Von ihr ist anscheinend auch keine Ablenkung
zu erwarten.
Plötzlich geht die Tür auf. Eine Frau kommt herein und
setzt sich in einen Sessel. Dort öffnet sie eine Tüte und
packt sichtlich erfreut ein tolles Spielzeug nach dem
anderen aus. Verstohlen schaut Johannes immer wieder zu ihr.
Zu gerne würde er diese Spielsachen selbst in die Hand
nehmen. Aber er traut sich nicht, die Frau anzusprechen.
Selbst als sie ihn fragt, ob er mitspielen will, bleibt der
Junge stumm. Er ist - das bestätigt später auch seine
Mutter - einfach zu schüchtern, um schnell mit Fremden
Kontakt aufzunehmen.
Schüchternheit ist kein Nachteil
Diese Szene ist inzwischen gut zwanzig Jahre her, und in
dieser Zeit ist klar geworden, dass sich Mütter mit Kindern
wie Johannes keine Sorgen machen müssen. Zwar haben Schüchterne
es im Leben anfangs etwas schwerer als weniger zurückhaltende
Kinder. Dauerhafte Nachteile erleiden sie aber nicht.
"Schüchterne Menschen haben in jungen Jahren mehr
Probleme, einen Partner und Arbeit zu finden - doch später
sind sie genauso erfolgreich wie andere", sagt der
Psychologe Jens Asendorpf von der Berliner
Humboldt-Universität. Das hat er in einer Studie an 200 Mädchen
und Jungen aus München herausgefunden, die er im Rahmen des
Logik-Projekts vom Kindergarten bis ins Erwachsenenalter
begleitet hat (siehe Infokasten). Die erste Beziehung und
das erste richtige Arbeitsverhältnis gehen die Zurückhaltenden
demnach nur mit einer durchschnittlich achtmonatigen Verspätung
ein.
Schüchternheit scheint der Langzeituntersuchung zufolge
eine Eigenschaft zu sein, die sich bereits im Kindergarten
bemerkbar macht und die Betroffenen oft ein Leben lang
begleitet. Doch Asendorpf kann die Eltern zurückhaltender
Kinder beruhigen. "Schüchterne finden zwar nicht so
leicht Freunde wie andere", sagt er. "Dafür
halten ihre Freund- und später auch Partnerschaften aber in
der Regel länger als bei den Draufgängern."
Die Untersuchung wurde 1984 am Max-Planck-Institut für
Psychologische Forschung in München begonnen. Unter der
Leitung des damaligen Institutsdirektors Franz Weinert
wollten Forscher aus dem In- und Ausland herausfinden, wann
Kinder bestimmte soziale und intellektuelle Kompetenzen
entwickeln, wie frühzeitig sich unterschiedliche Persönlichkeiten
und besondere Talente bemerkbar machen und inwieweit solche
Unterschiede auch über die Pubertät hinaus von Dauer sind.
Dazu wurden die Probanden - so wie der kleine Johannes -
zwischen 1984 und 1993 dreimal im Jahr etwa acht Stunden
lang untersucht und dabei gefilmt. Zwei weitere Erhebungen
fanden in den Jahren 1998 und 2003/2004 statt. An der
letzten Befragung vor zwei Jahren nahmen noch 152 Probanden
teil; sie alle waren inzwischen 22 oder 23 Jahre alt. Die
ersten Endergebnisse der Logik-Studie stellten die
beteiligten Wissenschaftler gestern auf einem Kongress in München
vor, der noch bis heute Abend andauert.
Eine weitere Eigenschaft, die sich schon im Kindergarten
herauskristallisiert, ist der Untersuchung zufolge die Fähigkeit
zum moralischen Handeln. "Kinder entwickeln früh ein
Verständnis für Regeln", sagt Wolfgang Schneider vom
Institut für Psychologie der Universität Würzburg, der
die Untersuchung von 1998 an leitete. Mehr als 90 Prozent
aller Vierjährigen wissen zum Beispiel, dass es verboten
ist, Schokolade zu stehlen. Fragt man sie aber, wie sich ein
Schokoladendieb ihrer Meinung nach fühlt, antworten die
meisten Kinder: "Gut!" Schließlich ist der Räuber
ja an die ersehnte Süßigkeit herangekommen.
"Viele von den Kindern, die mit Gut antworten,
weisen auch im späteren Leben keine sonderlich hohe
moralische Motivation auf", sagt Schneider. Man hat zum
Beispiel einem Bekannten versprochen, ihm das alte Mofa für
dreihundert Euro zu überlassen. Was, wenn plötzlich einer
kommt, der vierhundert bietet? "Nur jeder dritte junge
Mann würde sein Versprechen halten und auf den zusätzlichen
Gewinn verzichten", berichtet der Forscher. "Dabei
wissen sie alle genau, dass sie selbst nicht so behandelt
werden wollen." Junge Frauen schneiden bei
vergleichbaren Tests übrigens besser ab: Etwa zwei von drei
Frauen nehmen in Gewissenskonflikten persönliche Nachteile
in Kauf, um moralisch zu handeln.
Für intellektuelle Fähigkeiten werden die Grundsteine
offenbar ebenfalls schon im Kindergarten gelegt. "Der
spätere Erfolg in der Grundschule lässt sich anhand der Fähigkeiten
eines Vierjährigen recht gut vorhersagen", sagt
Schneider.
Später verwischen sich die Unterschiede allerdings
wieder: Ob ein Schüler der Sekundarstufe I oder II in einem
bestimmten Fach erfolgreich ist, hängt dem Psychologen
zufolge weniger vom Intelligenzquotienten ab als von den
Vorkenntnissen in dem jeweiligen Fach. "In der
Grundschulzeit bilden sich die Unterschiede in der Lese-,
Schreib- und Rechenfähigkeit heraus", sagt Schneider.
"Überraschenderweise öffnet sich die Schere zwischen
begabten und weniger begabten Schülern auf den weiterführenden
Schulen aber nicht noch weiter."
Egal, welcher Lehrer
Der einzelne Lehrer scheint für den Erfolg seiner Schützlinge
nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. "Die meisten
Kinder entwickeln sich ihren Möglichkeiten entsprechend -
egal, von wem sie unterrichtet werden", berichtet
Schneider. Auch der Einfluss des Elternhauses ist der
Logik-Studie zufolge geringer als gedacht, vor allem nach
der Grundschulzeit. "Es gibt viele Jugendliche, die von
ihrem Umfeld völlig unbeeindruckt ihren Weg gehen",
sagt Schneider.
Was also ist das wichtigste Fazit nach zwanzig Jahren
wissenschaftlicher Arbeit? Schneiders Antwort: "Während
der Kindergartenzeit sollte man seinen Nachwuchs sehr genau
beobachten." Wolle man grundlegende Defizite beheben,
etwa beim Spracherwerb oder in der Motorik, müsse das im
Alter zwischen drei und fünf Jahren geschehen. Schneider:
"Je länger man wartet, desto schwieriger wird eine
Therapie."
Berliner Zeitung, 13.07.2006