Eike A. Detering, 1985

 Die Realschule -  ein Problem?

I.

Unter diesem Titel schrieb 1970 der damalige Oberschulrat W. Gerlach über die Einführung von Wahlpflichtkursen als Differenzierungsmaßnahme "zur Förderung individueller Eignungen" an der Berliner Realschule. 1)

In der Tat war diese Viererdifferenzierung (Kurse A - D) eine große Errungenschaft gegenüber dem Bildungsplan für die OTZ (Oberschule Technischen Zweiges) von 1953.

Wenn auch im einzelnen noch auf die Wahlpflichtdifferenzierung in der Berliner Schule eingegangen werden soll, so kann doch mit Wollenweber 2) gesagt werden, daß ganz allgemein die Differenzierung in der Realschule "in ihrer Begründung sowie in ihrer prinzipiellen Ausgestaltung als gelungen bezeichnet werden" kann.

Verglichen mit den anderen Oberschulzweigen der Sekundarstufe I ist die Realschule gewiß keine Problemschule.

Wenn man berücksichtigt, daß sich die Realschule von 1960 bis 1983 stark ausbreiten konnte (Verdoppelung der Schulen, aber sogar Verdreifachung der Schülerzahl (Bundesgebiet)), ist der derzeitige Stand von ca. 25% Realschülern angesichts der in der Zwischenzeit eingeführten Gesamtschule ein guter Erfolg.

Eltern und Schüler haben sich trotz vielversprechender Bildungszertifikate der Gesamtschule (Abitur kann evtl. doch noch erreicht werden!) nicht von dem bewährten Bildungsabschluß der Realschule abbringen lassen.

Wenn man bedenkt, daß es nach wie vor das erklärte Ziel der GEW ist, die Realschule zugunsten der Gesamtschule abzuschaffen, dann verwundert die Fragestellung im Titel des Aufsatzes von

Werner Klose in der Zeitung DIE ZEIT vom 27.8.1982: 'Realschule - gibt es die noch?' nicht.

Klose schreibt aber, daß sich die Realschule behaupten konnte und im Gegensatz zu Hauptschule und Gymnasium eine offene Schule sei, „deren Elternschaft sozial der Gesamtgesellschaft entspricht.“

Dies bestätigt in jüngster Zeit (12/1984) Frau Bundesminister Dr. Wilms, wenn sie aus Anlaß des 35jährigen Bestehens des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR) in ihrer Festansprache sagt: „...Die unterschiedlichen sozialen Gruppen sind heute an der Realschule nahezu exakt repräsentativ vertreten. Die Bildungsbeteiligung sozial schwächerer Gruppen ist gerade von den Realschulen ermöglicht worden, die in diesem Sinne eine den sozialen Aufstieg fördernde Institution geworden sind.“ 3)

Wenn überhaupt, wo liegen also Probleme der heutigen Realschule?

II.

Was uns fehlt ist eine Ausrichtung der Realschule auf die Erfordernisse der technischen Kultur des Westens im Jahre 2000, auf das wirtschaftliche Überleben Europas durch hohen technischen Standard, durch Innovationsfreudigkeit.

„Dies ist erforderlich, weil der internationale Wettbewerb zwischen den Industrieländern nicht zuletzt durch Innovationskonkurrenz gekennzeichnet ist, bei der die wirtschaftliche Nutzung und rasche Beherrschung neuer Technologien eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg darstellt.“ 4)

In diesem Zusammenhang werden Fragen des Umweltschutzes eine immer größere Rolle spielen. Es muß aber auch darauf geachtet werden, daß in einer seelisch immer kälter werdenden „Technik-Technokraten-Welt“ der Mensch seelisch nicht verkümmert, was auch in der Schule wichtig genommen werden sollte, was also Folgen haben müßte im schulischen Leben.

III.

Wo sind dem o.g. zufolge Schwachpunkte in der Realschule von heute?

Auf der im November 1984 in Paris stattgefundenen Tagung des OECD-Bildungsausschusses auf Ministerebene wurde die Frage einer Bildungsreform in den westlichen Industrieländern zum Generalthema. „Man war sich in der Konferenz im wesentlichen einig, daß unbeschadet einer hochqualifizierten Vorbereitung auf berufliche Anforderungen, vor allem auch in den modernen Technologien, eine breite BASISQUALIFIKATION unbedingt erforderlich ist, weil allein eine solche GRUNDBILDUNG ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im Berufsleben garantiert.“ 5)

 Meines Erachtens ist eine Rückbesinnung auf die Vermittlung wichtiger Grundqualifikationen ein ernstzunehmendes Argument für Rahmenplanrevisionen.

Die 'Verwissenschaftlichung' des mittleren Schulwesens brachte Defizite in der Beherrschung der Kulturtechniken und - was viel schwerer wiegt - Schulunlust.

Schon in der 60er Jahren waren didaktische Ansätze zur Behebung der 'Stoffülle' in Unterrichtsplänen präsent. Wagenscheins Prinzip des 'Exemplarischen Lehrens und Lernens' sei stellvertretend für viele genannt.

Ein sinnvoller Schritt in die o.g. Richtung ist beispielsweise der im Rahmenplan für Mathematik festgelegte Katalog von arithmetischen und algebraischen Grundfertigkeiten im Sekundarbereich I; in Berlin gültig ab Schuljahr 1984/85 für die Klassen 7 und 8.

Die im genannten 'Vorläufigen Rahmenplan' nach wie vor vorhandene Stoffülle verhindert allerdings teilweise die erwünschten Ergebnisse. Die Mathematiklehrer müssen sich immer wieder neu die Frage stellen, warum der Mathematikunterricht so schwach motiviert und die Unlust der Schüler traditionell groß ist. 5a)

Der Einbezug des Computers und der modernen Medien in den Mathematikunterricht ist ein weiterer Schritt zur notwendigen stärkeren Individualisierung des Unterrichts und zur Verstärkung des Praxisbezugs. 6)

Die sinkenden Schülerzahlen im Bereich der Sekundarstufe I erleichtern pädagogisch-didaktische Verbesserungen. Da Räume frei werden, kann das Fachraumkonzept verbessert werden. Ich empfehle die Einrichtung mathematischer Kabinette an jeder Realschule, also von MATHEMATIK-Fachräumen mit einer sinnvollen Medienausstattung incl. Tageslichtprojektor, Projektionswand (neigbar!), mit vielen Tafeln (u.a. auch führbar), mit mind. einer Rechner-Konfiguration, die auch einen großen Monitor (Wandbefestigung!) enthält, mit einer Verdunklungsmöglichkeit!)

Die Erstellung von Selbstinstruktionsmedien kann nicht nur den Verlagen überlassen bleiben; das Pädagogische Zentrum Berlin sollte dabei eine innovierende Rolle übernehmen! Projektergebnisse wie die des 'IMU'-Projekts aus Schweden sollten bei der Weiterentwicklung der Didaktik des Faches MATHEMATIK nicht von vornherein beiseite gelegt werden.

'Verwissenschaftlichung' und Stoffülle ist auch ein Problem anderer Unterrichtsfächer.

Die oben erwähnte OECD-Konferenz „befaßte sich auch mit der Frage, in welchem Maße die moderne COMPUTERTECHNOLOGIE Eingang in das schulische Curriculum finden soll. Der Umgang mit den neuen Technologien wurde neben Lesen, Schreiben und Rechnen als vierte wichtige Kulturtechnik bezeichnet, deren Beherrschung Voraussetzung für alle beruflichen Aktivitäten sei.“ 8)

Es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß es neben dem Wahlpflichtfach INFORMATIK eine Vermittlung von Grundqualifikationen für alle Schüler, oft 'computer-literacy' benannt, geben muß.

Dies bedeutet konkret etwa das Umgehenkönnen mit einem Programmpaket am Computer, zumindest aber die problemlose Bedienung eines Textverarbeitungsprogramms sowie den Erwerb

einfacher Programmierungsfähigkeiten.            .

Die 'Empfehlungen des Gesprächskreises Bildungsplanung' über Naturwissenschaft und Technik als Bildungsauftrag heben Berlin lobend hervor: „Allein in Berlin wird INFORMATIK bisher als eigenes Wahlfach im Sekundarbereich I angeboten.“ Allerdings wird auch beklagt, daß es „an entsprechend ausgebildeten Lehrern und der notwendigen Ausstattung der Schulen ...“ mangelt. 9)

Für den Bereich der REALSCHULE ist dankend zu erwähnen, daß der zuständige Oberschulrat Herr W. Feskorn die Bemühungen einzelner Realschullehrer, INFORMATIK als Wahlpflichtfach einzuführen, immer unterstützte.

So kam es - unter Zugrundelegung des für die Klassenstufen 9 und 10 gültigen Rahmencurriculums für INFORMATIK... - zur Einführung des Wahlpflichtkurses A 'Mathematik/Informatik'.

Seit 1979, zunächst an 2 Realschulen, jetzt bereits an 9 Realschulen, wird der Kurs 'Mathematik / lNFORMATIK' von Schülern und Eltern begeistert angenommen. Leider können aus Platzgründen nicht alle Anmeldungen (nach der 8. Klasse) berücksichtigt werden. Obwohl ich persönlich die Kombination von MATHEMATIK und INFORMATIK schätze, muß der Überlegung Raum gegeben werden, ob es nicht auch angebracht sein könnte, stattdessen einen weiteren Kurs F (INFORMATIK) einzurichten.

Daß Schüler des Kurses A im 7. und 8. Schuljahr bereits Computergrundwissen wie Zahl- bzw. Stellenwertsysteme oder Logische Schaltungen erfahren könnten, prädestiniert sie besonders, ab Klasse 9 INFORMATIK weiter zu betreiben. Eine Festlegung - nur auf diese Schüler - sollte allerdings vermieden werden. Ein umfassende Erörterung der Probleme des Faches INFORMATIK an der Realschule muß einer anderen Veröffentlichung überlassen werden.

Der Wahlpflichtunterricht an der Berliner Realschule sollte im Umfang von 4 Wochenstunden erhalten bleiben. Im Wahlpflichtbereich von Arbeitslehre könnte TECHNIK einen Schwerpunkt bilden. Auch bei sinkenden Schülerzahlen muß ein Mindestangebot von Kursen aufrechterhalten bleiben. Der deutschkundlich-musische Kurs sollte - zumindest an Schwerpunktschulen - aufrechterhalten werden.

Fachleistungsdifferenzierung in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch - wie an der Haupt- bzw. Gesamtschule üblich - sollte unbedingt vermieden werden, damit die Zusammengehörigkeit der Schüler im Klassenverband als pädagogische Einheit nicht gefährdet wird.

Wenn auch jeder Lehrer zugleich Erzieher sein muß, verbleibt doch die Hauptlast dieses Auftrages beim Klassenlehrer, der im übrigen auch noch die Verwaltungsarbeiten zu erledigen hat. Es ist also nur zu gerecht gewesen, daß die geringe Unterrichtsermäßigung von 1 Std. den Klassenlehrern des 7. und 10. Schuljahres zugute kam.

Bleibt zu hoffen, daß - wie versprochen - im kommenden Schuljahr die Klassenleiter der 8. Klassen und danach die der 9. Klassen in den 'Genuß' der Ermäßigungsstunde kommen.

Weiterhin notwendige Pflichtstunden-Ermäßigungen sollten zuerst an Kollegen mit hoher Korrekturbelastung (Klassenarbeitsfächer) verteilt werden.

Schüler und Lehrer verbringen einen großen Teil ihres Lebens in der Schule - für die Schüler der Sekundarstufe I eine prägende Zeit ihres Lebens. Das 'SCHULLEBEN' sollte diesem Umstand Rechnung tragen.

Die Klassenräume sollten zu 'Schulwohnstuben' der Schüler werden. Der 'Schulwohnraum' soll nach Peter Petersen viele Wandtafeln haben, „auch die Fensterbänke müssen freigegeben werden für die Aufnahme von Aquarien, Terrarien, Blumen und für manches andere, was der Kinder Herz liebt und was sie in 'ihrem' Raum um sich haben möchten.“ 10)

Sport, Spiel, Musik und Kunst müssen gleichberechtigt gesehen werden mit theoretischer Lernanstrengung ('Kopfarbeit').

Gesundheitserziehung sowie Lebenskunde werden in pädagogischen Veröffentlichungen immer mehr Beachtung geschenkt - warum nicht auch in der Schule?!

Leistungsfähigkeit entsteht erst durch einen sinnvollen Wechsel von Anspannung und Entspannung. Dementsprechend sollte auch einmal darüber nachgedacht werden, ob die Pausenordnung ,zugunsten aller Beteiligten geändert werden könnte.

Beim Besuch eines englischen Colleges für Schüler gefiel es mir sehr gut, daß Schüler und Lehrer in den Teepausen zwanglos ins Gespräch kamen ('Stehparty').

Die Pausenaktivitäten waren mannigfaltig: Neben sportlicher Betätigung nach Wahl konnten die Schüler auch im Haus bleiben. Ein 'quarrel-room' für Diskussionsfreudige existierte ebenso wie ein

'resting-room' für Lesefreudige, Schachspieler oder Meditierende.

Wenn wir in der Realschule ähnliches anstreben wollen, müßten wir die 'Hofpausen' verlängern. Werden beide 'Hofpausen' auf 25 Minuten ausgedehnt, ergibt sich eine Mehrzeit von 15 Minuten, d.h. die 6. Stunde würde erst 13.35 Uhr enden.

Einzelne Lehrer - evtl. nach Plan - hielten sich in den 'Aktivitätsräumen' zur Aufsicht, aber eben auch um des Gesprächs willen auf.

Hektik und Streß des Schulvormittages der Sekundarstufe I wären entkrampft, Kurskonferenzen besser einschiebbar, pädagogisch wertvolle Situationen könnten gestaltet werden.

Die Einrichtung einer 'Teestube' durch Schüler und Lehrer (sowie evtl. Eltern) erscheint mir in diesem Zusammenhang als sinnvolles Vorhaben. Dort wäre auch der Ort für die Vorführung kleiner Sketche, ein Ort freundlicher und entspannter Kommunikation.

Schule soll ein Platz des Lebens und nicht der Lebensvermeidung sein. Daher sollte auch immer versucht werden, Außenwelt in die Schule zu tragen.

Berufs- bzw. Betriebspraktika haben sich bewährt und werden an vielen Berliner Realschulen bereits dreiwöchig durchgeführt. Klassenfahrten - auch in den anderen Teil Deutschlands - sollen noch stärker von der Schuladministration gefördert werden; Schullandheimarbeit ist nach wie vor pädagogisch wertvoll.

Hier konnten nur einige wenige Anregungen zur Veränderung des 'SCHULLEBENS' in der Realschule vorgeschlagen werden. Wenn einzelne Kollegien bereits ähnliches verwirklicht haben, wäre es erfreulich, etwas davon erfahren zu können. 11)            .

Ich bin sicher, daß sich einige Gedanken ohne 'Befehl von oben' in den Kollegien verwirklichen lassen. Ein Klima der Offenheit, des Vertrauens und des Aufmunterns, vertreten und vorgelebt durch Schulleiter, Schulräte, ja die gesamte Schulhierarchie, würde neuen Aufschwung gewährleisten. 12)

 Dieser Aufsatz von E.A.Detering wurde in den VBE-informationen 4/5 vom Mai 1985 veröffentlicht. Da ich zu fast allen Äußerungen auch 2006 noch stehen kann, wird er von mir jetzt hier veröffentlicht.

Hervorhebungen in Fettschrift habe ich erst 2006 vorgenommen!

1) Wilhelm Gerlach: 'Die Realschule - ein Problem (?)', in: 'INFORMATIONSDIENST SCHULWESEN' 4/70,

Hrsg.: Senator für Schulwesen, S. 15

2) Horst Wollenweber: 'Die Realschule - Schulart ohne Probleme?', in: 'DIE REALSCHULE' 3-84, S. 106

3) Dr. Dorothee Wilms: 'Realschule und Realität - Herausforderung und Perspektiven',                .

in: 'DIE REALSCHULE' 2-85, S. 59

4) 'Naturwissenschaft und Technik als Bildungsauftrag - Empfehlung des Gesprächskreises Bildungsplanung'

hrsg. vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Bonn, 2/1984, S. 7

5) Zit. aus: 'Mitteilungen und Informationen des Sekretariats der KMK 5/84, S. 7, (Hervorhebung vom Verf.)

5a) An dieser Stelle hätte ich 10 Jahre später; also 1995, keine Unlust mehr behauptet, denn sowohl empirische Untersuchungen als auch meine eigenen Erfahrungen widersprachen dem.

6) vgl. Heinrich Roth: 'Schule als optimale Organisation von Lernprozessen', in H. Roth: Revolution der Schule?

Die Lernprozesse ändern, Schrodel, Auswahl Reihe A, Bd. 9, 1969, S. 62"

7) Selbstverständlich dürfen sich Computerfinanzierungspläne des Senators für Schulwesen in Zukunft nicht nur auf die Sekundarstufe II beziehen!

8) 'Mitteilungen und Informationen ...', a.a.O.

9) 'Naturwissenschaft und Technik ...', a.a.O., S. 12

10) Peter Petersen: Der Kleine Jena-Plan, G. Westermann Verlag, 1963, S. 23

11) An Realschulfragen interessierte Kollegen werden auch hierdurch noch einmal zur Mitarbeit im Realschul-Ausschuß unseres Verbandes eingeladen.

12) vgl. Heinz-Jürgen Ipfling: 'Innere Schulreform in Schulorganisation und Schulleben',

in 'FORUM E-Zeitschrift des VBE´, 1/1985, S. 9 ff.

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